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Wie unser Verständnis von „Zeit“  unser Lebensgefühl beeinflusst

Viele werden diesen Gemeindebrief kurz nach ihrem Urlaub in den Händen haben, nach einer kleinen Auszeit im Jahr von dem sonst üblichen Zeitdruck. Und manche erlebten Muße, also den angenehmen Zustand von Gedankenspiel oder ruhigem Tun, indem viel Freiheit und Erfüllung erlebt werden kann, denn da spielt die Frage nach Effizienz und Nutzen keine Rolle. Die bestimmt ansonsten zu einem erheblichen Maße unsere Perspektive auf die Zeit:

Zeit nutzen - Zeit sparen -  Zeit vergeuden

Das Zeitverständnis hat sich mit der Industrialisierung von einem zyklischen in ein lineares verwandelt. In bäuerlichen Gesellschaften mussten die Menschen sich an den Kreislauf der Natur anpassen. Das Wiederkehrende war das Maß der Zeit. Zeit zu säen, Zeit zu ernten, Zeit zu ruhen, Zeit der Vorbereitung auf die Saat. Auch die individuelle Lebenszeitspanne war - und ist bis heute in den wenigen noch existierenden „Naturvölkern“ - viel stärker eingebettet im Bewusstsein, in diesen wiederkehrenden Rhythmus zu gehören, den die Gemeinschaft weiter lebt und weiter pflegt, und in den die eigene Lebensspanne hineinfließt, wenn sie zu Ende ist. Die persönliche „Lebensbilanz“ als ein Fazit einer Leistungs- oder Erlebnisdichte hat da eine geringere Bedeutung.

Mit  der Industrialisierung haben Maschinenlaufzeiten den Takt übernommen.  Der Antrieb, sich an diesen Takt anzupassen, war die bessere Zukunft, die man sich erarbeiten kann. Zeit kostete Geld und die Notwendigkeit, mit wenig Mitteln viel zu erreichen,  machte bis heute Effizienz als Maßstab im Umgang mit der Zeit. Das reicht bis ins Freizeitverhalten. Hier sehen sich viele vor der Herausforderung, möglichst viele Erlebnismöglichkeiten in einen kleinen Zeitrahmen zu packen. Kontakte wollen gepflegt werden, und man muss sich flexibel mit dem Zeitryhthmus der anderen abstimmen in Vereinen, in Freundeskreisen, mit dem der Kinder. 

„Je mehr du gedacht, je mehr du getan hast, desto länger hast du gelebt.“ Damit hat Immanuel Kant einst den Zusammenhang von Zeitempfinden und Lebenssinn beschrieben, der auf „Gott“ als Grund für den Sinn verzichten kann. In unserer Zeit wird dieser Satz zur Beschreibung eines Lebensgefühls der vollständigen „Verdiesseitigung“: Das Leben als letzte Gelegenheit!  

Im christlichen Glauben ist Gott Ursprung und Ziel der Zeit. Die Zeit des einzelnen Menschen kommt zur Vollendung und zum Ziel in der Ewigkeit. Das Ziel der ganzen Welt ist diese Vollendung, die erzählt wird als vollständige Gemeinschaft mit Gott in seinem Frieden.

Damit kommt zum linearen oder zyklischen Zeitverständnis die Ewigkeit als andere Kategorie dazu. Der Mensch organisiert sein Leben in der Spannung zwischen Zeitlichem und Ewigem. Das Kirchenjahr verbindet damit das zyklische Zeitbewusstsein mit dem linearen. Es schreitet in den Festen und Festzeiten des Kirchenjahreskreises wiederkehrend die Berührungspunkte mit dem Ewigen ab und will durch die Wiederholung ein immer tieferes Verstehen des Dabeiseins Gottes eröffnen. Es ist eine „Sehschule“ für das heilsame Wirken Gottes in einer unheilen Welt. Das Ziel der „besseren Zukunft“, das für das lineare Zeitverständnis zählt, entspricht im christlichen Glauben der Aussicht auf das „gute Ende“ in der neuen Welt Gottes- „dem neuen Himmel, der neuen Erde“,  wo Leid und Tod nicht mehr existieren und die Trennung zwischen Gott und Menschen aufgehoben ist. Dieses gute Ziel ist nicht durch menschliche Effizienz zu erreichen.

Das Zeitmaß des Kirchenjahres verändert das Lebensgefühl dahingehend, dass es nicht um „schneller, besser, mehr“ geht. Die Zeit ist dazu da, sich einzuleben in die Liebe Gottes und mitzuwirken an der Gestaltung des Zusammenlebens nach den Merkmalen dieser Liebe. Dass man das tut, ist das Entscheidende, nicht der „Erfolg“ und auch nicht die Dauer des eigenen Lebens. Dass sich der Mensch plagt für nichts und wieder nichts, ist auch der Bibel bekannt. Und sie sieht dies als Zeichen der Gottesferne der Menschen.

U. Trippel